Volume X – 2011

The tenth volume of Gegenwartsliteratur appeared in October 2011;
ISBN 978-3-86057-581-9. The Table of Contents gives abstracts of the essays that are included in
this volume:

Inhaltsverzeichnis/Table of Contents

I. Schwerpunkt/Focus: Herta Müller

Hartmut  Steinecke
Herta Müller: Atemschaukel. Ein Roman vom “Nullpunkt der Existenz”

Herta Müller schrieb Atemschaukel (2009) auf der Basis von Schilderungen Oskar Pastiors über den Alltag in einem sowjetischen Arbeitslager. Ziel ist es zu zeigen: daraus entstand nicht “Gulag-Literatur aus zweiter Hand” (Radisch), sondern ein politischer und moralischer Roman mit einer für Terror und Grauen angemessenen, genauen und doch zugleich poetischen Sprache. Nach einer Skizze des historischen Hintergrunds der Deportationen von Rumänien­deut­schen 1945/1950 beschreibt und gewichtet der Essay die Mitarbeit Pastiors: analysiert wird der Prozess der Um­formung und Literarisierung des Erzählten. Besondere Aufmerksam­keit gilt dabei den realistischen Substraten und Detail­schilderungen sowie den Leitmetaphern “Hungerengel”, “Herz­schaufel” und “Atemschaukel”. In der Spannung zwischen diesen Polen entwickelt Müller Form und Sprache für das Schreiben über das Leben am “Nullpunkt der Existenz”.
(h.steinecke@uni-paderborn.de)

Michael Braun
Die Erfindung der Erinnerung: Herta Müllers Atemschaukel

Der postmemoriale Roman Atemschaukel (2009) illustriert Herta Müllers Poetik der erfundenen Erinnerung. Das Zeitzeugengespräch mit Oskar Pastior und persönliche Familienerinnerungen der Autorin stehen Modell für einen fiktiven Ich-Erzähler, der mit einer dinggenauen Kunstsprache der Erinnerung und mit dem für Müllers Schreibweise kennzeichnenden “fremden Blick” ausgestattet ist. So transformiert Müller ein tabuisiertes Kapitel europäischer Nachkriegsge­schichte — die Deportation eines Großteils der rumäniendeutschen Bevölkerung in sowjetische Arbeitslager — in das Gedächtnis der Literatur. Der Beitrag unter­sucht die Vorgeschichte dieser Gedächtnisarbeit in dem Debütband Niederungen (1982/1984), die Entstehung von Atemschaukel, die sprachliche Form und die Struktur des Romans sowie die Rolle der poetischen Erinnerung, die sich anstelle von unmittelbarer autobiographischer Erinnerung spezifischer Mittel der Fiktionalisierung bedient.
(Michael.Braun@kas.de)

Norbert Otto Eke
“Gelber Mais, keine Zeit”. Herta Müllers Nach-Schrift Atemschaukel. Roman

Irritierend ist die Art und Weise, in der Herta Müller in ihrem 2009 erschienenen Roman Atemschaukel von der Deportation deutsch­stämmiger Männer und Frauen in sowjetische Arbeitslager erzählt. Als befremdlich erscheinen in diesem Roman Sprache und narrative Konstruktion; brüchig sind zumal die oft in eigentümlicher Weise entfalte­ten Bilder, mit denen Herta Müller Bedeutung markiert, Körper und Gegenstände besetzt. Der Aufsatz analysiert dieses ästheti­sche Form­gebungsverfahren vor dem Hintergrund der Gulag-und Shoah-Literatur und den ihr eingeschriebenen Fragen der Darstellbarkeit und Kommuni­zier­­barkeit genozidaler Gewalter­fahrungen. Dabei stehen Fragen der Konstruktion postmemorialen Einge­denkens ebenso zur Diskussion wie solche der Authentizität/Zeugenschaft. Zugleich wird der Roman über die Darstellung zentraler Themen und Motive (Entzeit­li­chung der Lagerrealität, Entindividuali­sierung, fortgesetzte Trau­ma­tisierung) sowie Metaphern (Hungerengel, falsche Zeit) diskurs- und literarhistorisch kontextualisiert.
(norbert.eke@upb.de)

Helga Mitterbauer
Ästhetische Hybridisierung:
Verfremdungstechniken in Herta Müllers Die blassen Herren mit den Mokkatassen

Im Vergleich mit ihren Romanen hat Herta Müller ihre Collagen wiederholt als genre mineur bezeichnet. Am Beispiel der Sammlung Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2008) wird diese von der literaturwissen­schaftlichen Forschung weitgehend affirmierte Autorenpoetik relativiert und korrigiert: Betrachtet als ästhetisch hochwertige Hybridbildungen treten bislang kaum beachtete ikonische Momente der Text-Bild-Komposita ins Blickfeld. Durch die Aufhebung der Dichotomie von Sprache und Bild werden die Collagen zu einem kommunikativen Experimentierraum, in dem zahlreiche Anleihen an Formen­sprachen des Barock über die Zweite Moderne bis zum Surrealismus verknüpft, transformiert und verdichtet werden. Müllers Technik des Schneidens, Neu-Ordnens und Klebens zielt auf das Verwischen von Spuren; doch gerade durch dieses Verfahren treten die thematisierten Massen­verbrechen des 20. Jahrhunderts erst recht aus den Bruchstellen hervor.
(helga.mitterbauer@uni-graz.at)

Christoph Parry
Zur Enklavenproblematik bei Herta Müller und Joseph Zoderer

Das Frühwerk Herta Müllers malt ein kritisches Bild von der Gesellschaft ihrer heimatlichen Sprach-Enklave, des schwäbischen Banats. Dieses Bild wird auf der Grundlage soziologischer Erkenntnisse über das Leben bedrängter Minder­heiten untersucht. Als Vergleichspunkt wird Südtirol, die Heimat Joseph Zoderers, herangezogen. Der Beitrag spürt den Merkmalen einer Enklaven­mentalität im Frühwerk Müllers und in zwei Romanen Joseph Zoderers nach. Trotz politischer und wirtschaftlicher Unterschiede zwischen dem untergehen­den Banat und dem blühenden Südtirol, lassen sich in beiden Fällen Tendenzen zur Abschottung nach Außen und zur Intoleranz nach Innen erkennen. Während Müller die Introvertiertheit der Enkla­venbewohner in satirischen Bildern präsentiert und dem Leser die Situation der Sprachinsel mit originellen Sprach­wendungen näherbringt, untersucht Zoderer die psychologischen Mechanismen, welche den Fortbe­stand der besonderen Enklavenmentalität verursachen.
(chpa@uwasa.fi)

II. Einzelinterpretationen

Sabine Doran
Writing van Gogh through Francis Bacon: Friederike Mayröcker’s Non-Human Aesthetics

Mayröcker’s short prose piece “Vincent van Gogh: ‘Maler auf dem Weg nach Tarascon’ / Francis Bacon: ‘Studie zu Porträt van Gogh I’” is read as an attempt to deconstruct the quasi-mythical image of Van Gogh (as the humanistic icon par excellence of modern art) through Bacon’s visual deconstruction of the painter, an endeavor inspired by Gilles Deleuze’s analysis of Bacon’s work in terms of a “logic of sensation.” The performative aspects of Mayröcker’s writing are highlighted—in particular, the ways in which she imitates the painting techniques of van Gogh and Bacon by transforming them into literary figures through décollage—to show how Mayröcker dissolves the human subject in the service of a non- or post-human aesthetics.
(sabined@ucr.edu)

Alexandra Pontzen
Polemik und Ostalgie.
Zu Günter Grass’ Tagebuch 1990 mit Seitenblick auf Peter Rühmkorfs TABU

Mit seinen Stellungnahmen zur Wiedervereinigung hat sich Grass ins politische Abseits manövriert. Seine einschlägigen Essays, Reden und neuerdings sein Tagebuch 1990 zeigen einen einheitsskeptischen polemischen Außenseiter, der sogar Auschwitz als Argument gegen “das angebliche Recht auf deutsche Einheit” instrumentalisiert. Grass’ Klage über den Sieg der Bundesrepublik und das Ende der DDR ist weniger Ausdruck politischer Gesinnung und banaler Ostalgie als Konsequenz einer ‘Poetik des Verlusts’, die den Erzähler verpflichtet, statt auf der Seite der Sieger zu stehen, vom Verlust zu leben. Sie macht Grass trotz seiner Nähe zur politischen Linken zum auf Bewahrung bedach­­ten Konservativen, der angesichts der politisch-historischen Um­wäl­zungen des Mauerfalls im “rechten linken Glauben” verharrt — im Unterschied zum Freund Peter Rühmkorf, wie dessen Tagebuch aus gleicher Zeit verdeut­licht. (A.Pontzen@ulg.ac.be)

Anna K. Kuhn
Of Trauma, Angels and Healing:
Christa Wolf’s Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud

Christa Wolf’s most recent autobiographical narrative can be read as her long-awaited Wenderoman, in which she works through her relationship to the GDR and German (re)unification. It also marks a turn to a nonrational epistemology and a new, fanciful, self-ironic mode of writing. Situating Stadt der Engel within Wolf’s oeuvre and life narrative, the article uses a close reading method to argue that in this literary reworking of her nine-month stay as scholar in residence at the Getty Center in Santa Monica, Wolf’s Doppelgänger-narrator, haunted by her GDR past, moves from trauma and existential crisis to self-acceptance and psychic healing. Vital to the narrator’s recovery is the Getty Center’s sociality, Freud’s imaginary overcoat, the teachings of a Buddhist nun, and the housekeeper-cum-guardian angel, Angelina.
(akkuhn@ucdavis.edu)

Janine Ludwig
“Die Kunst wird Sie nicht retten″ –
Christoph Heins Frau Paula Trousseau als tragischer Kunst-Roman

Die Malerin Paula Trousseau — eine einsame, unpolitische, narzisstische und kalkulierende Person — scheitert am Leben, privat wie künstlerisch. Eine Schlüsselmetapher hierfür ist ihr wichtigstes Kunstwerk: das monochrom weiße Bild einer Winterlandschaft, das dem Formalismus-Verdikt der DDR zum Opfer fällt. Die unterm Schnee verborgene Natur (gleichsam eine eingeschneite Utopie) symbolisiert ihren Wunsch nach Liebe. In einem Akt von ihrer Geliebten erhält diese Utopie einen realen Körper. Paula Trousseau flieht in die Kunst und zahlt den Preis dafür: Kommunikation gelingt ihr weder mit dem Rezipienten durch das Kunstwerk noch mit der eigenen Tochter durch ihren auto­diegetischen Lebensbericht. Der Roman fragt weniger nach der Rolle der Kunst in einer Diktatur als nach der Vereinbarkeit von Kunst und Leben, nach dem Glück überhaupt.
(janine.ludwig@gmx.net)

Bernhard Malkmus
Das Naturtheater des W.G. Sebald:
Die ökologischen Aporien eines poeta doctus

Dieser Aufsatz untersucht das Motiv der “Naturgeschichte” und dessen philo­sophische Wurzeln und Implikationen im Werk W.G. Sebalds unter besonderer Berück­sich­tigung der Veröffentlichungen, die explizit ökologi­sche Frage­stellungen thematisieren, Nach der Natur und Die Ringe des Saturn. Sebalds Verankerung dieser Naturgeschichte in einer ontologisch aufgefassten Verfalls­geschichte in Anlehnung an Benjamins Geschichts­theologie und den Mythos­begriff der Dialektik der Aufklärung führt zu einem primär kultur­zentrierten Konzept von Ökologie, das die Geschichte der Moderne als fortschreitende Katastrophe liest. Dieser philosophisch motivierte Überbau wird zwar von bestimmten Schreibver­fahren Sebalds unterlaufen, die sich an Modellen des Netzwerks und wechselseitiger Interdependenzen orientieren und damit eine anthropo­fugale Bewegung inszenieren. Durch die Einbindung dieser poetischen Verfahren in das Dispositiv der Naturgeschichte wird diese Bewegung allerdings wieder in eine anthropozentrische rücküberführt.
(malkmus@osu.edu)

Gundela Hachmann
“Sieh auf deine Hand, bis sie zerfällt.”
Entropie und Individualzeit in Thomas Lehrs Roman 42

Thomas Lehrs Roman 42  thematisiert und problematisiert das Zustande­kommen von Wissen. Der Roman entwirft eine Dystopie, in der wesentliche Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind: Die Erde rotiert nicht länger und die Zeit bleibt stehen. Die wiederholten Versuche, dieses Phänomen wissenschaftlich erklär- und manipulierbar zu machen, scheitern. In der Darstellung dieses Scheiterns bietet sich dem Erzähler die Möglichkeit, sich mit poetischen Mitteln einer anderen Form des Wissens asymptotisch anzunähern. Die Frage “Was ist Zeit?” beantwortet er, indem er Newtons universalistische Metapher vom Fluss der Zeit ablehnt und stattdessen auf somatischer Ebene Zeit an biologische Verfallsprozesse koppelt. Die so gewonnene Distanz zum Universalismus nutzt der Text, um mithilfe von Medienvergleichen ein Konzept intersubjektiver und partikularer Identität zu entwickeln. (ghachmann@lsu.edu)

Chantelle Warner
A Turkish Tale:
Genre, Subjectivity, and the Controversy around Feridun Zaimoğlu’s Leyla

The article examines the critical reception of Feridun Zaimoğlu’s 2006 novel Leyla in the wake of the plagiarism controversy that ensued when an anonymous scholar alleged that there were parallels between this work and Emine Sevgi Özdamar’s novel Das Leben ist eine Karawanserei. Through a comparative analysis of the critical discussions around Leyla (1992) both before and after the plagiarism charges, as well as the reception of Zaimoğlu’s earlier works, such as Kanak Sprak (1995), it is argued that the theoretical framework of genre theory can help us to better understand the pragmatics of a work such as Leyla—which is a literary work with strong documentary claims—in terms of relevance, symbolic power, and the subjective positioning of the author.
(warnerc@email.arizona.edu)

Andrea Albrecht
Bilinguale Sprachspiele zwischen Ost und West: Yoko Tawada und Xiaolu Guo

Der Beitrag geht der Beobachtung nach, dass in den Texten der deutsch und japanisch schreibenden Yoko Tawada und der englisch und chinesisch schreibenden Xiaolu Guo die ‘Kohabitation’ einer östlich-asiatischen und einer westlichen Sprache inszeniert wird, die trotz der unterschiedlichen kulturellen Kontexte auf einem bemerkenswert ähnlichen Formenrepertoire basiert. An Tawadas Poetik der “Lücken” sowie ihren literarischen Essays auf der einen und an Guos Konzept “karikaturistischer Toleranz” und ihrem Roman A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers auf der anderen Seite werden die Strate­gien einer bilingualen Ästhetik nachgezeichnet, die durch komische poetische Effekte eine ethische Erkenntnis zu vermitteln sucht: die Möglichkeit eines ästhetischen Genusses, für den die asiatischen und die europäischen Sprachen aufeinander angewiesen sind.
(andrea.albrecht@gmail.com)

Rezensionen/Book Reviews

Eke, Norbert Otto; Steinecke, Hartmut, EDS. Shoah in der deutschsprachigen Literatur. (Sandra Alfers)

Ivanovic, Christine, ED. Yoko Tawada. Poetik der Transformationen. Beiträge zum Gesamtwerk. Mit dem Stück “Sancho Pansa” von Yoko Tawada. (Bettina Brandt)

Peitsch Helmut. Nachkriegsliteratur 1949-1989. (Michael Braun)

Kaemmerling, Richard.  Das kurze Glück der Gegenwart: Deutschsprachige Literatur seit ’89. (Michael Braun)

Ludwig, Janine; Meuser, Mirjam, EDS. Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutsch­land. (Carol Anne Costabile-Heming)

Ludwig, Janine. Heiner Müller, Ikone West. Das dramatische Werk Heiner Müllers in der Bundesrepublik—Rezeption und Wirkung. (Gerhard Fischer)

Braun MichaelDie deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. (Katharina Gerstenberger)

Crăciun, IonaHistorische Dichtergestalten im zeitge­nössi­schen Drama. (Alexander Mathäs)

Fischer, Gerhard, ED. W. G. Sebald: Schreiben ex patria / Expatriate Writing. (Mark R. McCulloh)

Wohlleben, Doren. Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in Poetik-Vorlesungen und Romanen der Gegenwart. (Martina Ölke)

Parkes, Stuart. Writers and Politics in Germany, 1945-2008. (Helmut Peitsch)

Herzog, Hillary Hope; Herzog, Todd Lapp, Benjamin, EDS. Rebirth of a Culture: Jewish Identity and Jewish Writing in Germany and Austria Today. (Leo W. Riegert, Jr.)

Dueck, Cheryl. Rifts in Time and in the Self: The Female Subject in Two Generations of East German Women Writers. (Caroline Schaumann)

Stranáková, Monika. Literarische Grenzüberschreitungen: Fremdheits-und Europa-Diskurs in den Werken von Barbara Frischmuth, Dževad Karahasan und Zafer Şenocak. (Azade Seyhan)

Amann, Wilhelm; Mein, Georg; Parr, Rolf, EDS. Globalisierung und Gegenwartsliteratur: Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. (Kris Vander Lugt)

Ahrend, Hinrich. “Tanz zwischen sämtlichen Stühlen”. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins. (Frieder von Ammon)

Lutzeler, Paul  Michael . Bürgerkrieg global: Menschen­rechts­ethos und deutschsprachiger Gegenwarts­roman. (Sebastian Wogenstein)