Volume V – 2006

The fifth volume of Gegenwartsliteratur appeared in October 2006 (ISBN: 3-86057-576-7). The table of contents gives abstracts of the essays that are included in this volume:

Inhaltsverzeichnis/Table of Contents

I. Schwerpunkt: Elfriede Jelinek

Imke Meyer
Kulturkritik und Postmoderne: Elfriede Jelineks früher Roman Michael

In Jelineks Roman Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft (1972) gehen Argumentationen der Frankfurter Schule und ein emanzipatorischer Er­zählanspruch eine postmoderne Verbindung ein. Der Text ist nicht durch den Widerspruch zwischen postmoderner Ästhetik und aufklärerischer Moderne be­lastet, weil er vor Habermas’ Adorno-Preisrede von 1980 mit ihrer Ablehnung der Postmoderne entstand. Jelineks Roman entwirft das Wunschbild eines mün­digen und aufgeklärten Individuums, das die Produkte der Kulturindustrie kon­sumieren kann, ohne sich von ihnen manipulieren zu lassen. Dieses Wunschbild antizipiert jenen Konsumenten massenmedialer Produkte, der sich damals durch die zeitgenössische nordamerikanische Medienlandschaft bewegte. Im deutschen Sprachraum wird sich dieser Konsument etablieren, wenn die Wir­kung der Habermas-Zäsur abklingt und sich das Verhältnis zur Postmoderne entspannt.
(ixmeyer@brynmawr.edu)


Claudia Liebrand
Traditionsbezüge: Canetti, Kafka und Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin

Elfriede Jelinek ist eine Meisterin der Zitation und Allusion. Ihre provozierenden Texte stellen Bezüge zu unterschiedlichsten literarischen Traditionen her, die spielerisch aufgerufen und durchquert, parodiert und kontrafaziert werden. Der Aufsatz nimmt einen der — von der Forschung bislang nicht fokussierten — Traditionsbezüge in den Blick und führt einen prominenten Text des Œuvres, den Roman Die Klavierspielerin aus dem Jahr 1983, zurück auf die Klassische Moderne. Gelesen wird das Buch als literarisches Projekt, das Elias Canettis Roman Die Blendung, den ersten Teil einer geplanten “Comédie Humaine an Irren”, fortsetzt und dessen Ende Franz Kafkas Romanfragment Der Proceß transkribiert.
(c.liebrand@uni-koeln.de)


Fatima Naqvi
Elfriede Jelinek’s Post-Dramatic Stress Disorder: Analysis of a Programmatic Aggression

Elfriede Jelinek’s post-dramatic theater, which takes leave of conventional plot lines, dramatis personae, and mimetic identification, is an ambivalent under­taking. She employs an “aesthetic of risk” that foregrounds the position of the author. The author speaks both as aggressor, imitating the dominant discourse and bringing out its absurdities, and as victim of this discourse. In her pro­grammatic texts “Ich möchte seicht sein” and “Sinn egal. Körper zwecklos,” Jelinek does away with the mirroring of consciousness without jettisoning affective involvement. She denigrates traditional actors at the expense of the director and of the author, putting the audience in an epistemologically and ontologically untenable position. Jelinek’s “post-dramatic stress disorder” finds its clearest expression in her 1998 play Ein Sportstück.
(naqvi@rci.rutgers.edu)


Gabriele Dürbeck 
Ideologiekritik im postdramatisches Theater: Thirza Brunckens Uraufführung von Elfriede Jelineks Stecken, Stab und Stangl

Der Beitrag setzt sich mit der These auseinander, dass die Übermittlung der ideologiekritischen Dimension in Jelineks dramatischem Werk an die diskursive Dominanz des Textes gebunden sei. Am Beispiel von Stecken, Stab und Stangl wird gezeigt, inwiefern die artifiziell montierten Textassemblagen aus Täter- und Opfersprache als Träger eines performativen Prozesses ohne eindeutige Bedeutungszuweisung der Zeichen fungieren und dem postdramatischen Thea­ter zuzurechnen sind. Die detaillierte Analyse der Uraufführung des Stücks erweist, dass der kritische Umgang mit der Textvorlage sowie die eigenständige Verwendung anderer theatraler Elemente (Bühne, Requisiten, Musik, darstelle­rische Ausdrucksmittel) die ideologiekritische Dimension des Textes zu kon­kretisieren vermag. Sie macht damit die latente Gewalttätigkeit eines Alltags­bewusstseins sinnlich erfahrbar, in dem sich Rassismus, Verdrängung und Gemütlichkeit vermengen.
(gabriele.duerbeck@uni-rostock.de)


Steve Dowden
Ethical Style: Susan Sontag in Sarajevo, Elfriede Jelinek in Vienna

Certain of Susan Sontag’s basic aesthetic principles help to shed light on Elfriede Jelinek’s achievement. Above all, the two writers share a common emphasis on the relationship between form and ethics. For both of them aes­thetic form, not an edifying “message,” gives art its ethical force. Some of Jeli­nek’s narrative rhetoric is explored in order to show how she invests form with the function of making the reader an active participant of artwork. This does not signify emotional involvement with the protagonist, since Jelinek repeatedly thwarts any sentimental moralizing in her readers. A tension between voyeur­ism and repulsion constantly leads the reader back to the surface. The novel turns out to be not a stable text but an unstable, challenging activity or per­formance.
(dowden@brandeis.edu)


Andreas Blödorn 
Medialisierung des Krieges: Mit Susan Sontag in Elfriede Jelineks Bambiland

In Elfriede Jelineks Bambiland nimmt die Erzählinstanz als ‘eingebetteter Beob­achter’ die medial vermittelte und konstruierte Wirklichkeit des Irakkrieges in den Blick. Der Beitrag positioniert Jelineks Medienkritik im Lichte ihrer Sprach- als Machtanalyse. Die Frage nach dem Realitätsgrad der Fernsehbilder wirft dabei nicht nur die Frage nach dem sprachlichen und literarischen Umgang mit den Repräsentationen des Krieges auf, sondern unterminiert zugleich die Gren­zen zwischen realer und medialer Wirklichkeit, zwischen Tätern und Opfern, zwischen Akteuren und Zuschauern. Im Rekurs auf Susan Sontags “Regarding the Pain of Others” zeigt sich die Involviertheit des Bildbetrachters in das reale Leiden anderer. Im Fokus steht damit ein für Jelineks Dichtung zentrales poeto­logisches Problem: ob und wie der Macht der Bilder und der Sprache des Krie­ges literarisch zu entkommen ist.
(andrb@gmx.net)


Bettina Brandt 
The Poetics and Tropes of Translation: Elfriede Jelinek’s Afterlife

An important function of translation has always been to promote specific re­gional, local, and national identities. Yet Elfriede Jelinek, whose work has been translated into more than forty languages, announced shortly after having being awarded the Nobel Prize in Literature that her writings are effectively untranslatable. This article questions the use of translation as trope and, more importantly, the tropes of translation in order to ponder what must be abandoned and what can be carried across in the process of translation. To do so, it focuses on a few sample translations of a passage of Jelinek’s most fre­quently translated novel, Die Klavierspielerin. Finally, it argues that in the pro­cess of translation, meaning is not only carried over and dislocated, but is also displaced in unpredictable ways.
(brandtb@mail.montclair.edu)

II. Tendenzen

Günter Blamberger 
Poetik der Unentschiedenheit: Zum Beispiel Judith Hermanns Prosa

Judith Hermanns Erzählbände Sommerhaus, später und Nichts als Gespenster lassen sich als metahistory verstehen, als Reflexionsmedium eines Krisenbe­wußtseins der jüngsten deutschen Autorengeneration um 2000, die Deutsch­land als einen Wartesaal ohne Perspektive erlebt. Die Reaktion darauf heißt Tristesse Royale als zeitgemäßer Ausdruck der Melancholie, ihr korrespondiert bei Judith Hermann eine Poetik der Unentschiedenheit. Sie resultiert aus der Detemporalisierung und Entdifferenzierung des literarischen Feldes nach der Wiedervereinigung. Stillstand herrscht im Fortschritt, es fehlt der Generationen­konflikt als Katalysator der eigenen Kreativität. So entwirft Judith Hermann Bilder einer culture-morte, in der die vergangenen Stimmen wie Gespenster in der Gegenwart der eigenen Stimme wiederkehren, ihre Autorschaft ist neo­historistische Sammelkunst, ihre Poetik wird bestimmt von den Verfahren des Re-Make und Re-Mix, von der Aufhebung des Richtungssinns in den Zeit- und Raumkonzeptionen und in der Narratologie.
(guenter.blamberger@uni-koeln.de)

III. Einzelinterpretationen

Thomas Borgstedt
Wunschwelten: Judith Hermann und die Neuromantik der Gegenwart

Die Kunst der Gegenwart kennzeichnet ein neues Interesse an romantisieren­den Phantasie- und Wunschwelten. Deren imaginäres Potential wird stark ge­macht, um Defizite der heutigen individualisierten Gesellschaft aufzuzeigen. Eine solche Aktualisierung der Romantik ist auch für die Erzählungen Judith Hermanns besonders charakteristisch. Daß sie damit literarisch nicht allein steht, wird durch Beispiele weiterer zeitgenössischer Erzähltexte illustriert. Her­manns Prosa setzt Verfahren erzählerischer Rahmung ein, um die problema­tische Klischeehaftigkeit ihrer romantisierenden Motive zu kennzeichnen und dadurch zugleich aufzufangen. In ihrer Erzählung “Rote Korallen” verteidigt die Autorin ihr subjektbezogenes Schreiben gegen den in den Debatten der 90er Jahre erhobenen Vorwurf der Geschichtsvergessenheit einer vermeintlich unbelasteten Nachwendeliteratur.
(borgstedt@lingua.uni-frankfurt.de)

Anne Fuchs
After-Images of History: Thomas Medicus’s In den Augen meines Großvaters

The landscape discourse in Thomas Medicus’s In den Augen meines Großvaters is analyzed here. The argument is presented that this novel is a particularly interesting example of the contemporary German family narrative because it reintroduces the idea that landscape is a prime vessel for the transmission of cultural memory. The article examines how Medicus switches between land­scape discourse and territorial discourse to explore the epistemological limits of the idea of postmemory. While many contemporary family narratives embrace the poetic license of postmemorial discourse, Medicus submits such imaginative reinvention of the past to critical analysis. By projecting landscape images onto the territorial map of the National Socialist colonization of the East, he exposes the ideological connections between landscape, Heimat, and territory.
(anne.fuchs@ucd.ie)

Rezensionen/Book Reviews

ADELSON, LESLIE A. The Turkish Turn in Contemporary German Litera­ture: Toward a New Critical Grammar of Migration. (Claudia Breger)

ARNASON, JOHANN P., & DAVID ROBERTS. Elias Canetti’s Counter-Image of Society: Crowds, Power, Transformation. (Berhard Fetz)

BARTRAM, GRAHAM, ED. The Cambridge Companion to the Modern German Novel. (Richard Langston)

INAUEN, YASMINE.Dramaturgie der Erinnerung. Geschichte, Ge­dächtnis, Körper bei Heiner Müller. (Helen Fehervary)

JANSEN, GEORG. Prinzip und Prozess Auslöschung. Intertextuelle Des­truktion und Konstitution des Romans bei Thomas Bernhard. (Barbara Mariacher)

LORENZ, MATTHIAS N. „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Juden­darstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. (Alexander Mathäs)

LÜTZELER, PAUL MICHAEL. Postmoderne und postkoloniale deutsch­sprachige Literatur. Diskurs, Analyse, Kritik. (David Roberts)

MAGENAU, JÖRG. Martin Walser. Eine Biographie. (Michael Braun)

RIGLER, CHRISTINE. Ich und die Medien. Neue Literatur von Frauen. (Anke S. Biendarra)

TABERNER, STUART. German Literature of the 1990s and Beyond. Normalization and the Berlin Republic. (Sabine von Dirke)

WENINGER, ROBERT. Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. (Michael Böhler)