Volume VIII – 2009

The eighth volume of Gegenwartsliteratur appeared in October 2009; ISBN 978-3-86057-579-6.
The Table of Contents gives abstracts of the essays that are included in this volume.

Inhaltsverzeichnis/Table of Contents

I. Schwerpunkt/Focus: Neue ostdeutsche Literatur

BIRGIT DAHLKE
Den Untergang beschreiben: Zur Lyrik und Prosa Wolfgang Hilbigs vor und nach 1989

Das Ende der DDR löste bei Hilbig eine Schreibkrise aus, von der er sich bis zu seinem frühen Tod 2007 nicht mehr erholte. Der Verlust des ‘Schreib­ortes’ und das Aus-der-Zeit-Fallen werden zu Themen der späten Lyrik und Prosa. Während es gelingt, den dunklen “schattenhaften Wald”, das “psychische Gelän­­de” der Vergangenheit, in assoziativen Bildströmen zu erkunden, findet Hilbig in Bezug auf die ‘ausgeleuchtete’ Welt der Gegen­wart keine literarischen Paradig­­­men. Das Versprechen eines ver­heis­­sungsvoll – visionären “Und dann”, das den letzten Lyrikband eröffnet, wird nicht erfüllt. Ein verschattetes lyrisches Subjekt spricht im stillgestell­ten Augenblick kurz vor der Katastrophe von einer Verlorenheit, deren Gründe auch in einer als uneingelöst erfahrenen Geschichte zu suchen sind.
(birgit.dahlke@rz.hu-berlin.de)

REINHARD ZACHAU
Über das “erfüllteste Jahr seines Lebens”: Thomas Brussigs Helden wie wir, Sonnenallee und Wie es leuchtet

Nach dem Erscheinen von Thomas Brussigs Roman Wie es leuchtet (2004) wird deutlich, dass er sich eine Ästhetik erarbeitet, mit der er die Emotionen des Wende­jahres literarisch ausdrücken kann. In diesem Beitrag wird Brussigs frühe­rer Roman Helden wie wir (1995) sowie der Film Sonnenallee (1999) ana­lysiert. In seinem experimentellen Text Helden wie wir geht Brussig von inter­textuel­len Anleihen aus (u. a. bei amerikanischen Autoren wie Philip Roth). Über den Musikfilm Sonnenallee findet er dann zu seiner eigenen integrativen Poetik in dem Roman Wie es leuchtet. Dort setzt er Mittel aus der Kunstästhetik ein, um zu einer multiperspektivischen Sehweise zu gelangen. Es ist Brussigs Ziel, mit seiner immer komplexer werdenden Ästhetik zu einer genaueren Seh­weise auf das historische Wendejahr zu kommen, um die politische Diskussion offen zu halten.
(rzachau@sewanee.edu)

STEFAN HERMES
Zwischen Altenburg und New York: Interkulturelle Begegnungen im Werk Ingo Schulzes

Im Unterschied zum Gros der Forschung beschäftigt sich der Beitrag nicht primär mit Schulzes Inszenierungen deutsch-deutscher Verhältnisse im Kon­text der Wiedervereinigung. Stattdessen analysiert er sowohl Schulzes Lite­ra­risie­rungen von touristischen und geschäftlichen Reisen in entfernte Weltgegenden, wie sie Ostdeutsche erst seit 1989/90 unternehmen konnten, als auch seine Aus­einandersetzung mit dem Vordringen des US-amerikanisch dominierten Kapitalismus auf das Gebiet der Ex-DDR. Gezeigt wird, dass Schulze die Versuche seiner Figuren, sich dem kulturell Anderen zu öffnen, meist folgen­reich scheitern lässt — unabhängig davon, ob das Fremde als “unbekann­tes Draußen” erscheint oder sich als “Einbruch des Unbekannten” manifestiert. Die Alternativlosigkeit interkultureller Verständigung im globalisierten Zeitalter wird überwiegend ex negativo veranschau­licht, wobei Fremdheit nicht allein auf der Inhaltsebene, sondern ebenso als “ästhetisches Verfahren” präsent ist.
(stefan-hermes@web.de)

JILL TWARK
New East German Satire: Ingo Schulze’s Neue Leben as a “Novel of Complexity” The “novel of complexity” emerged in the twentieth century from the con­sciousness of complexity in a globalized world. Schulze’s satirical novel Neue Leben displays complexity in its extensive intertextuality, multiple interrelated narrators, and ambiguous genre blending. The picaresque and epistolary genres receive the most attention: Schulze uses them to criticize socialism, capitalism, and the unification process, but also to approach, and to distance himself from, his own bio­graphy and memories. The author concludes that Schulze’s seem­ing­­ly Realist novel counters a societal and popular cultural trend toward increasing speed and compression of travel, informa­tion, and entertainment. Connections are drawn be­tween the novel and other East German satires like Brus­sig’s Helden wie wir to position it within the spectrum of post-Wall literature. (twarkj@ecu.edu)

ERK GRIMM
Parallax Memories: Revisiting Forgotten Borderlands in Reinhard Jirgl’s Novel Abtrünning

In telling the stories of two ill-fated men in Berlin, Reinhard Jirgl’s 2005 novel Abtrünnig participates in current debates over the city’s promise and German victimhood. The novel ties the plight of its protagoniststo topical depictions of economic crisis and globalization, while simulataneously focusing on processes of de-individuation originating originating in the past. The reconstruction of a 1945 massacre reveals the lingering presence of a retributive notion of justice that, by producing enmity without identifying actual adversaries, prevents the development of a German sense of self. The essay demonstrates how the novel’s conceptual distinction between “enemy” and “foe” not only produces a problematic view of the cultural Other, but could also lead to a reconsideration of Jirgl’s stature as a public intellectual. (egrimm@barnard.edu)

FRANK DEGLER
Figurationen des Abschieds: Sibylle Bergs Experimentalpoetik u-topischer Neuanfänge

Im Zentrum des Essays steht Sibylle Bergs bisheriges Romanwerk: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997), Sex II(1998), Amerika (2000); Ende gut (2004), Habe ich Dir eigentlich schon erzählt … (2006) und Die Fahrt (2007). Die Texte werden unter dem Aspekt der Post-Wende-Literatur interpretiert, was in der Forschung ein neuer Ansatz ist. Es zeigt sich, dass die DDR vor allem in den Texten nach 2001 als Ort, Thema und Befindlichkeit prä­sent ist, dass sie aber auch auf die Texte der 1990er Jahre ihren Einfluss nicht verfehlt hat. Eine Analyse der narrativen Strukturen und semantischen Ver­schiebungen der Kernmotive des Abschieds, des U-Topos und des Neuan­fangs macht dies sichtbar. Herausgearbeitet werden zudem die kritischen Impulse von Bergs Schreiben, die ebenfalls mit ihrer Sozialisation in der DDR zu tun haben.
(frank.degler@web.de)

II. Einzelinterpretationen

LYN MARVEN
Crossing Borders: Migration, Gender, and Language in Novels by Yadé Kara, Jeannette Lander and Terézia Mora

Migration affects language and gender as well as national identity, revealing these notions to be culturally determined. This paper examines three contem­porary novels by female authors of non-German origin—Yadé Kara’s Selam Berlin (2003), Jeannette Lander’s Robert (1998), and Terézia Mora’s Alle Tage (2004)—each of whom employs a migrant male narrator in order to question other forms of identity. This literary strategy highlights masculinity as a gen­der­ed construct, and metaphorically enables the authors and protagonists to move beyond other fixed categories; in particu­lar, notions of East and West are destabilised, and language becomes dis­loc­a­ted from identity. Set in post-unifi­ca­tion Berlin, these texts emphasise that the city and contemporary Germany are a locus of transna­tion­al migra­tion and challenge the borders of German-language fiction.
(L.Marven@liverpool.ac.uk)

ELKE SEGELCKE
Jenseits von ‘Eigenem’ und ‘Fremdem’: Zu Europabild und nomadischer Schreibstrategie Zafer Şenocaks

Angesichts der auf Abgrenzung fixierten aktuellen Identitätsdebatten unterläuft Zafer Şenocak in seinen Werken die Vorstellung ungebrochener kultureller Identitäten. Die Frage der kulturellen Differenz wird von dem deutschen Autor mus­limischer Herkunft nicht als Festschreibung einer vereinnehmbaren Anders­artig­keit verhandelt, sondern als produktive Desorientierung. Erkenntnis­ästhetisch führt dies zu einer nomadisierenden Schreibweise, vergleichbar der “Noma­­do­­­lo­gie” von Deleuze/Guattari. Ihr rhizomatisches Modell, das den Vorgang des Erkennens als Netzwerk beschreibt, entspricht Şenocaks Ästhetik der ver­schiedenartigen Verflechtungen von kulturellen Traditionen. Verbunden mit sei­nem Motiv der Bewegung zwischen ‘Eigenem’ und ‘Fremdem’ ist eine Nega­tive Hermeneutik, die die hermeneutisch-interkulturelle Konzeption ver­meint­li­chen Fremdverstehens kritisch hinterfragt. Gerade das Unverstan­dene wird damit in den Blick gerückt.
(esegelc@ilstu.edu)

ANDREA ALBRECHT
Mathematisches Wissen und historisches Erzählen: Michael Köhlmeiers Roman Abendland

In seinem umfangreichen Epochenroman Abendland (2007), der aus der Perspektive eines fiktiven Mathematikers die Geschichte des europäischen 20. Jahrhunderts erinnernd vergegenwärtigt, erzählt Michael Köhlmeier auch die tragi­sche Lebensgeschichte der jüdisch-deutschen Mathematikerin Emmy Noether (1882-1935), der Begründerin der modernen Algebra. Der Schauplatz Göt­tingen wird dabei zu einem exemplarischen Erinnerungs­raum verdichtet, in dem sich historische, biographische, memoriale und fiktio­nale Spuren kreuzen. Durch eine kritische Interpretation dieses Hand­lungs­strangs wird gezeigt, wie Köhlmeier das abstrakte Wissen der Mathe­matik durch historisierende und per­sonali­sie­rende Schreibverfahren erzähl­­bar macht. Seine fiktionale Introspektion in die vermeintlich unter ihrem Äußeren leidende Mathematikerin wird dem historischen Individuum Emmy Noether nicht gerecht, gestattet aber einen Ein­blick in das strategi­sche Arse­nal eines mit der Mathematik und der Mathema­tikgeschichte ringen­den Autors.
(andrea.albrecht@germanistik.uni-freiburg.de)

ELKE BRUNS
Der Affe in der Arbeitswelt: Mensch und Tier in Karen Duves Roman Taxi

Karen Duves Roman Taxi (2008) beschreibt im Rückgriff auf auto­bio­graphische Erfahrungen das monotone Leben einer Taxi­fahre­rin in den achtziger Jahren des letzten Jahrhun­derts. Ihr einziges Interesse gilt der Primaten­forschung. Dies ändert sich abrupt, als ein Affe einen Unfall verur­sacht und die Ich-Erzählerin ihre ökonomische Existenzgrundlage verliert. Fokussiert auf die text­konstitutiven Diskurse über Gender, Primaten und Arbeit geht der Beitrag der im Roman aufgeworfenen Frage nach der Mensch-Tier-Differenz nach. Im Rekurs auf die von Georgio Agam­ben vor­ge­nommene Re­­lek­türe philosophischer und verhaltens­biologi­scher Theo­re­­­me, wie sie Jakob von Uexküll und Martin Heidegger vorge­­legt haben, wird Taxi im Forschungsfeld ‘Literatur und Wissen’ kontextualisiert: Der Affe fungiert als Wissensfigur des Menschen, der sich selbst als Mensch be­grei­fen und da­mit hervorbringen muss, um einer zu sein.
(elke.bruens@uni-greifswald.de)

EVA KUTTENBERG
Textuality, Loss, and Self: Melitta Breznik’s Nachtdienst

Disentangling complex interwoven structures in Melitta Breznik’s literary debut, her 1995 novel Nachtdienst, is the focus here. Breznik’s self-reflexive narrative offers an exploration of loss against the backdrop of clinical residency. The essay examines how Breznik invests literary form with function and reads Nacht­­­­dienst as a creative “free speech act” in response to rigid medical pro­to­col. Embedding personal, site-specific, visual, and sensory memories in graph­ic descriptions of wounds and the physicality of the human body makes grief a corpo­real experience. Analogies between a depersonalized medical sphere and details of family history, particularly a troubled father-daughter re­la­tion­ship, en­hance this effect. Similarly, objective categories of language, space, and time clash with subjective perceptions, underscoring Breznik’s plea for individuality.
(ekuttenberg@yahoo.com)

Rezensionen/Book Reviews

CHEESMAN, TOM. Novels of Turkish German Settlement: Cosmopolite Fictions. (Leslie A. Adelson) Owen, Ruth J.

RUTH J. OWEN. The Poet’s Role: Lyric Responses to German Unification by Poets from the GDR. (Gary L. Baker)

NICKEL, GUNTHER, Hg. Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. Materialien, Dokumente, Interpretationen. (Michael Braun)

ARNOLD, HEINZ LUDWIG, Hg. Daniel Kehlmann. (Michael Braun)

TABERNER, STUART; BERGER, KARINA; Eds. Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic. (Philip Broadbent)

SANTNER, ERIC. Creaturely Life: Rilke, Benjamin, Sebald. (Karen S. Feldman)

MAHR, CORDULA. Kriegsliteratur von Frauen? Zur Darstellung des Zweiten Weltkriegs in Autobiographien von Frauen nach 1960. (Jennifer M. Kapczynski)

LYON, JAMES K. Paul Celan and Martin Heidegger: An Unresolved Conversation. (Martin Klebes)

TWARK, JILL E. Humor, Satire, and Identity: Eastern German Literature in the 1990s. (Eva-Maria Russo)

RECTANUS, MARK W., Ed. Über Gegenwartsliteratur: Interpretationen und Interventionen. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 65. Geburtstag von ehemaligen StudentInnen. About Contemporary Literature: Interpretations and Interventions. A Festschrift for Paul Michael Lützeler on his 65th Birthday from former Students. (Monika Shafi)

VOGEL, BERNHARD, Ed. Cadenabbia als literarischer Ort. Schriftsteller am Comer See.(Susanne Rinner)